Die vielleicht berühmteste Porträtserie in der Geschichte der Fotografie sind wohl die von August Sander Menschen des 20. Jahrhunderts. Das 1924 gestartete Großprojekt hatte zum Ziel, eine Art Gesamtporträt der deutschen Gesellschaft in der Weimarer Republik zu schaffen. Allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen stehen die meist frontal fotografierten Menschen als Individuen vor uns, aber immer gekennzeichnet als Repräsentanten ihres Berufs oder ihrer gesellschaftlichen Gruppe, die sie verallgemeinernd darstellen. In einer repräsentativen Auswahl zeigt uns Sander eine Gesellschaft, in der jeder einen festen Platz hat.
Wenn es heute ein vergleichbares Projekt gibt, dann sind es die 990 Gesichter, die Hans-Jürgen Raabe nacheinander an verschiedenen Orten der Welt fotografiert. Im Gegensatz zu Sander werden die Menschen, die Raabe uns zeigt, nicht "klassifiziert", wir erfahren nichts über sie außer dem Ort, an dem das jeweilige Foto entstanden ist und dem, was wir auf den Fotos sehen, die meist nur das Gesicht und wenig von der Umgebung zeigen. Die Anonymität der Personen, gerade die Tatsache, dass wir nichts über sie wissen, verleiht ihnen eine unentrinnbare Individualität. Sie "repräsentieren" weder Ethnie, sozialen Status, Beruf, sondern nur sich selbst. Die Personen stehen nicht einmal für den Ort, an dem sie sich zum Zeitpunkt der Aufnahme aufhielten. Leben sie hier dauerhaft oder waren sie nur als Touristen oder für eine berufliche Tätigkeit, eine Pilgerreise, einen Studienaufenthalt oder weil sie Flüchtlinge sind, hier? Unterschiede ergeben sich jedoch aus der Wahl der verschiedenen Orte. Es gibt Orte, an denen viele Menschen aus der ganzen Welt zusammenkommen, wie der Wallfahrtsort Lourdes, die 5th Avenue in New York, der Eiffelturm in Paris, das Brandenburger Tor in Berlin. Es gibt aber auch Orte und ganze Länder, in denen Raabe, ebenso wie die ethnische Gleichförmigkeit der fotografierten Menschen, wohl hauptsächlich Einheimische vor die Kamera brachte, wie Grönland oder Papua-Neuguinea.
Damit erscheint aber auch die unterschiedliche ethnische Vielfalt primär als Merkmal des jeweiligen Ortes und weniger bezogen auf die einzelne Person. Ohne auf eine moralische Botschaft oder einen populären Slogan angewiesen zu sein, zeigen die 990 Gesichter selbstbewusst, dass alle Menschen einerseits gleich und andererseits völlig verschieden sind. Und das gelingt Raabe in "nur" 990 Fotografien und schon in denen, die bisher aufgenommen wurden. Raabes 990 Gesichter ist ein fotografischer Atlas im Zeitalter der Globalisierung, der uns lehrt, das Gesicht eines jeden Menschen vorurteilsfrei zu betrachten. Er ist ein Atlas und kein Panorama, denn er erhebt einen Anspruch auf Repräsentativität, aber nicht auf Vollständigkeit. Auch stellt der Atlas keine Auswahl aus einem viel größeren Fundus oder Archiv dar. Wenn alle 990 Gesichter fotografiert worden sind, ist das Projekt zwar abgeschlossen, aber sein fragmentarischer Charakter steht von vornherein fest...
Auszug aus dem Text von Ludwig Seyfahrt
Perhaps the most famous portrait series in the history of photography are August Sander People of the 20th century. Launched in 1924, this major project aimed to create a kind of overall portrait of German society in the Weimar Republic. Alone, in pairs or in small groups, mostly frontally photographed people stand before us as individuals, but always marked as representatives of their profession or social group, which they represent in a generalized way. In a representative selection, Sander shows us a society in which everyone has a fixed place.
If there is a comparable project today, it is the 990 Faces that Hans-Jürgen Raabe successively photographs in different places around the world. In contrast to Sander, the people Raabe shows us are not "classified", we learn nothing about them except the place where the respective photo was taken and what we see in the photographs, which mostly show only the face and little of the surroundings. The anonymity of the persons, precisely the fact that we know nothing about them, gives them an inescapable individuality. They "represent" neither ethnicity, social status, profession, but only themselves. The people do not even stand for the place where they were at the time of the recording. Do they live here permanently or were they only here as tourists or for a professional activity, a pilgrimage, a study visit or because they are refugees? Differences, however, are suggested by the choice of the different places. There are places where many people from all over the world come together, such as the pilgrimage site of Lourdes, 5th Avenue in New York, the Eiffel Tower in Paris, the Brandenburg Gate in Berlin. In addition, there are places and entire countries where Raabe, as well as the ethnic uniformity of the people photographed, probably brought mainly locals in front of the camera, such as Greenland or Papua New Guinea.
Thus, however, the different ethnic diversity also appears primarily as a characteristic of the respective place and less related to the individual person. Without being dependent on a moral message or a popular slogan, the 990 Faces confidently demonstrate that all people are on the one hand equal and on the other hand completely different. And Raabe succeeds in doing this in "only" 990 photographs and already in those that have been taken so far. Raabe's 990 Faces is a photographic exercise atlas in the age of globalization, which teaches us to look at every single person's face without prejudice. It is an atlas and not a panorama, because there is a claim to representativeness, but not to completeness. Nor does the atlas represent a selection from a much larger fund or archive. When all 990 faces have been photographed, the project will be complete, but its per se fragmentary character will have been established from the outset.
Excerpt from Text by Ludwig Seyfahrt