Frieder Nake - Zwei frühe Originalzeichnungen generativer Kunst

Frieder Nake: »Zufälliger Polygonzug horizontal/vertikal«, 1965.
Frieder Nake: »Zufälliger Polygonzug horizontal/vertikal«, 1965.

»Zufälliger Polygonzug horizontal/vertikal«.

In seiner damaligen Bezeichnung: „25/2/65 Nr. 14. 1965. 128/150“. 

 

Es handelt sich um eine im globalen Vergleich sehr frühe Originalzeichnung generativer Kunst. Sie wurde auf dem Computer „Standard Elektrik-Lorenz ER56“ errechnet und auf der Zeichenmaschine Zuse Graphomat Z64 gezeichnet. Die rückseitig angebrachte Kennzeichnung 128/150 deutet zwar darauf hin, dass es sich um ein Blatt aus einer Edition handelt. Jedoch ist es hier kein Druck einer Original-Vorlage (wie in der Druckgrafik). Vielmehr ist jede der 150 Zeichnungen von der Zeichenmaschine separat gezeichnet worden. Jedes der so hergestellten Blätter ist demnach eine originale Zeichnung. Der  Zeichenvorgang selbst hat unter den damals gegebenen konkreten technischen Bedingungen ca. 15 Minuten beansprucht.

 

Einigermaßen leicht ist zu erkennen, dass ein Linienmuster von abwechselnd horizontalen und vertikalen Linien viermal gezeichnet worden ist. Das ist einer einfachen Eigenschaft der Zeichenmaschine Graphomat zu verdanken. In sie  konnten bis zu vier Zeichenstifte gleichzeitig eingesetzt werden. Für das vorliegende Blatt wurden vier Stifte eingesetzt und gleichzeitig gesenkt, so dass das Linienmuster im mechanischen Vorgang des Zeichnens  viermal, parallel gegeneinander versetzt, und in drei Farben erzeugt wurde. Am breiteren schwarzen Linienzug ist das wohl am leichtesten sichtbar zu verfolgen. – Ich habe stets professionelle Zeichenstifte und Tuschen verwendet, wie auch Papiere aus dem Kunstbedarf. – Die Zeichnung besteht also aus vier geometrisch gleichen Linien, die grafisch parallel gegen einander versetzt realisiert werden. In der Mathematik heißt ein solcher Linienzug „Polygon“ („Vielseit“). Jedes der einzelnen Liniensegmente des Polygons ist von zufälliger Länge (innerhalb des Zeichenformats bleibend). Zufällig ist auch die Entscheidung, ob nach links oder rechts (im horizontalen Fall) oder nach oben oder unten (im vertikalen Fall) gezeichnet wird. Der Ort des ersten Punktes ist zufällig gewählt, ebenso die erste Richtung (horizontal oder vertikal) und die Anzahl der Segmente des gesamten Polygons.

 

Anmerkung: Diese verbale Beschreibung enthält all das, was im Programm in anderer Form auszudrücken wäre – eben als „Programm“ in einer Programmiersprache.

 


Frieder Nake: »Matrizenmultiplikation Serie 34«. 1968
Frieder Nake: »Matrizenmultiplikation Serie 34«. 1968

 »Matrizenmultiplikation Serie 34«. 1968

 

Gezeichnet und gezeigt werden neun Zustände einer Folge von „Potenzen“ einer zunächst zufällig bestimmten sogenannter stochastischen Diagonal-Matrix. Eine Matrix ist ein rechteckiges Schema von Zahlen. Insbesondere kann das Schema auch quadratisch sein. Es kann dann z.B. 20 Zeilen und 20 Spalten besitzen. Man kann Matrizen miteinander multiplizieren. Das Ergebnis ist wieder eine Matrix. Multipliziert man zwei quadratische Matrizen, so entsteht wieder eine quadratische. Dies ist die mathematische Grundlage der Grafik. Eine zufällig vom Programm gewählte quadratische Matrix, nennen wir sie A, wird mit sich selbst multipliziert. Wir erhalten A2. Multiplizieren wir dieses Ergebnis erneut mit A, so erhalten wir A3. Dieses einfache Prinzip setzen wir fort: Wir bilden so die Potenzen von A, eine nach der anderen.

 

Die Matrizen des Programms sind darüber hinaus von einer besonderen Art: Sie sind sog. „stochastische“ Matrizen. Das bedeutet, dass alle Zahlen zwischen 0 und 1 liegen und dass die Summe der Zahlen in jeder der Zeilen 1 ergibt. – Um das Bild entstehen zu lassen, werden aus der Folge der Matrix-Potenzen einige ausgewählt (hier sind es neun). Damit nun die für das Bild ausgewählten neun Matrizen nicht mehr Zahlen-Schemata sind, sondern zu sichtbaren Bild-Bestandteilen werden, müssen die Zahlen der Matrix in Farben übersetzt werden. Konkret werden Intervallen von Zahlen Farben zugeordnet. Das geschieht folgendermaßen. Wenn z.B. sechs Farben verwendet werden sollen, wird das Zahlenintervall von 0 bis1 in sechs Intervalle aufgeteilt. Das kann auf sehr viele Weisen geschehen. Z.B. von 0 bis 0.2, von 0.2 bis 0.3, von dort bis 0.45, dann bis 0.6, bis 0.8, schließlich von 0.8 bis 1.0. Die Zahl 0.512 etwa liegt dann im vierten Intervall (von 0.45 bis 0.6). Jedem Zahlen-Intervall wird eine der Farben zugeordnet. Unsere Zahl 0.512 liegt im vierten Teil-Intervall. Also wird ihr die vierte Farbe zugeordnet. An der Stelle im quadratischen Zahlenschema, wo die 0.512 steht, wird dann ein kleines Quadrat mit der vierten Farbe gefüllt.

 

Nach dem hier angedeuteten algorithmischen Schema (das zum “Programm“ wird) werden die ausgewählten Potenzen (wir können sagen „die Zustände“) der Folge von Matrizen in kleine Bilder übersetzt, die in der Grafik materiell angeordnet erscheinen. Ein rein mathematischer Prozess wird zur Quelle und Ursache eines Bild-Prozesses. Wir könnten sagen, die mathematisch bestimmte Folge der stochastischen Matrizen wird „visualisiert“. Die sichtbare Erscheinung der Visualisierung wird stark geprägt durch die Festlegung der Intervalle bei der Teilung des gesamten Intervalls von 0 bis 1 in seine Teil-Intervalle. Auf diese willkürlich von uns vorab vorgenommene Teilung und die Auswahl der Farben schrumpft der Beitrag des Künstlers zu dieser Zeichnung. Selbstverständlich ließen sich auch diese beiden Vorgaben noch programmieren. Die Künstlerin gäbe dann noch mehr ihrer Entscheidungen ab an die Maschine, den Computer. Noch mehr ihrer eigenen Arbeit hätte in die programmierten Vorgabe einzufließen. – Wir können die Bilder des Programms „Matrizenmultiplikation“ etwa so kennzeichnen: Streng bestimmte, jedoch nur schwach  durchschaubare Übersetzungen eines mathematischen in einen ästhetischen Prozess.

 

Zusatz-Bemerkung: Die Informatik hat es für mich zu tun mit der „Maschinisierung von Kopfarbeit“. Sie hat es mit Prozessen von Zeichen zu tun, nicht mit Prozessen von stofflichen Dingen. Die Informatik ist Technische Semiotik. Befassen wir uns mit der Erzeugung von Bildern durch Computer, so müssen wir das Bild denken, nicht machen. Wenn wir das Bild denken, denken wir zwangsläufig an ganze Mengen von Bildern, an Unendlichkeiten von Bildern. Der Umgang mit Bildern auf algorithmische Weise (durch Programmierung) stellt eine tiefe kulturelle Revolution dar.

 

Künstler Statement - Bremen, am 5. Juni 2022


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