E-Book: Matthias Leupold - Die Vergangenheit hat erst begonnen

Die Vergangenheit hat erst begonnen

Matthias Leupold selbst bezeichnet seine Bilder als szenische Fotografien. Zugegeben, der Begriff ist ungewöhnlich, aber er beschreibt die Arbeitsweise Leupolds präziser als die gängigen Begriffe der inszenierten oder inszenierenden Fotografie. Das Wort szenisch bezieht sich auf einen bestimmten Ort; Skene war im antiken griechischen Theater die Arena oder die Bühne, während eine Szene im modernen Sinne ein kurzer, in sich abgeschlossener Teil eines Theaterstücks oder Films ist. Übertragen auf die Fotografie bedeutet es also einen Ort, an dem uns etwas präsentiert wird, damit wir es betrachten können. Und es bedeutet auch den Schauplatz eines Ereignisses, einer Handlung als Teil einer Erzählung oder einer Geschichte. Bis auf wenige Ausnahmen produziert Leupold dieses Ereignis - eingebettet in eine Geschichte oder diese evozierend - vor allem zum Zwecke des Fotografierens und Festhaltens - in seinem Bild.

 

Ost-Berlin 1983 - 1986

Die Bilder aus diesen Jahren entstanden in enger Zusammenarbeit mit zwei Freunden, Andreas Leupold und Andreas Hentschel. Einige der ersten kleinen Ausstellungen wurden unter dem Gruppennamen "Nach uns die Zukunft" präsentiert - eine eingängige Anspielung auf das resignativ-zynische Motto "Nach uns die Sintflut" und eine Absage an das damals im Osten berüchtigte Versprechen einer "besseren" Zukunft - ein Versprechen, das als ständiger Trost angesichts der allgegenwärtigen Not gedacht war. Leupolds Intention ist dagegen ein Beharren auf dem Hier und Jetzt, auf der Selbstverwirklichung ganz in der Gegenwart. Das bedeutet auch Geistesgegenwart - in den Situationen der Inszenierung ebenso wie in der Wahl seiner Sujets.

 

Einige der frühesten Bilder sind symptomatisch und daher aufschlussreich für Leupolds damalige Arbeit. Ein erstes Interesse an Serien lässt sich bereits in dem Triptychon Im Kino erkennen, einer Art Variation des Motivs der drei japanischen Affen: "Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen". In diesem Triptychon geht es um einen Aufschrei gegen all jene, die schweigend zuschauen und nicht sehen wollen, was vor aller Augen gezeigt und aufgeführt wird, und wir sehen auch die Geste, sich selbst zu erschießen, sich aus der Situation herauszuschießen. Das dreiteilige Bild ist durch einen kalkulierten Eingriff in die reale Situation einer 3D-Filmvorführung entstanden, die Zuschauer im Kino tragen eine 3D-Brille. Das so entstandene Bild erhält eine symbolische Qualität: Gesagtes und Ungesagtes, Sichtbares und Unsichtbares, Sagbares und Ungesagtes werden miteinander verbunden. In der Tat ist das Motiv des Sehens für viele der frühen Bilder wichtig: Schauen, sich umschauen, sich selbst anschauen oder die Augen zuhalten. Darin liegt ein Ausdruck von Sehnsucht oder die Suche nach Perspektiven und Auswegen aus der festgefahrenen, festgefahrenen gesellschaftlichen Situation. 

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 Die Entwicklungen und Zugewinne in Leupolds Werk während der vier kurzen Jahre in Ost-Berlin lassen sich als drei Felder gegensätzlicher Spannung zusammenfassen: zwischen Statik und Dynamik, zwischen Kontemplation und Narration, zwischen Witz und Symbol. In den Bildern trennen sich diese Dimensionen jedoch nicht, sondern fallen - teilweise oder sogar vollständig - in eins.

 

T.O. Immisch, Matthias Leupold, Fiktive Bilder

Die Vergangenheit hat erst begonnen

Schaden Verlag Köln, 2003

The Past Has Only Just Begun

Matthias Leupold himself refers to his pictures as scenic photographs. Admittedly, the term is unusual, but it describes the way in which Leupold works more precisely than the established notions of staged or staging photography. The word scenic refers to a particular place; skene was the arena or the stage in antique Greek theatre, while a scene in the modern sense is a short, self-contained part of a theatre play or film. Transferred to photography, therefore, it means a place where something is presented to us so that we may look at it. And it also means the arena for an event, for an action as part of a narrative or a story. With very few exceptions, Leupold produces this event - embedded into a story or evoking one - especially for the purpose of photographing and holding on to it – in his picture.

 

East Berlin 1983 – 1986

The pictures from these years originated in close collaboration with two friends, Andreas Leupold and Andreas Hentschel. Some of the first small shows were presented under the group name “After Us the Future” – a catchy reference to the resigned and cynical motto “after us the deluge” and a rejection of the promise, then notorious in the east, of a “better” future – a promise intended as constant consolation in face of omnipresent hardships. By contrast, Leupold’s intention is an insistence on the here and now, on self-realisation completely in the present. This also signifies presence of mind – in the situations of staging as well as in his choice of subjects.

 

Some of the earliest pictures are symptomatic and therefore illuminating with respect to Leupold’s work at that time. An initial interest in series may already be found in the triptych At the Cinema, a kind of variation on the motif of the three Japanese monkeys: “See no evil, hear no evil, speak no evil”. This triptych involves an outcry against all those who stare silently, not wanting to see what is shown and performed in front of everyone, and we also see the gesture of shooting oneself, shooting oneself right out of the situation. The three-panel picture was made by means of a calculated intervention into the real situation of a 3D film screening, the viewers in the cinema are wearing 3D glasses. The resulting image achieves a symbolic quality: the said and the unsaid, the visible and invisible, what can be voiced and what cannot be voiced are all combined. Indeed, the motif of seeing is important for many of the early pictures: looking, looking around, looking at oneself or covering up one’s eyes. This includes an expression of desire or searching for perspectives and ways out of the stalled, halted social situation. 

 The developments and gains in Leupold’s work during the four short years in East Berlin may be summed up as three fields of opposing tension: between the static and the dynamic, between contemplation and narration, and between the joke and the symbol. In the pictures, however, these dimensions do not divide up, but – to some extent or even fully – they fall into one.

 

T.O. Immisch, Matthias Leupold, Fictive Images

The Past Has Only Just Begun

Schaden Verlag Cologne, 2003


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